Die Ausstellung „Blickwechsel“ in der Bad Wildunger Wandelhalle erinnerte im November und Dezember 2021 an das Schicksal ehemaliger jüdischer Bürger aus ungewöhnlicher Perspektive. 25 Autoren versuchten mit Texten zu ausgewählten Bildern, die Menschen „zum Sprechen“ zu bringen. Sie versetzten sich in das Leben ehemaliger Wildunger Juden und schrieben Texte, Gedichte und Briefe mit einer Mischung aus Fiktion und Wahrheit. Lesen Sie hier den zweiten Teil der Geschichte der Familie Freilich in Bad Wildungen der Nachkriegszeit!

Alltag und Angst

Anmerkung: Aus dem Jiddisch entlehnte Begriffe sind kursiv geschrieben.

Estera schaute in den Spiegel. Man hatte ihr den Kopf rasiert und auf dem linken Unterarm die Häftlingsnummer tätowiert. Dann hatte man sie in einen großen Raum gebracht, um eine Dusche zu nehmen. All dies war geschehen inAnwesenheit von SS-Männem, obwohl sie sich hatte nackt ausziehen müssen. Ihre Pupillen weiteten sich und das Weiß ihrer Augäpfel wurde größer. Ihr Herz raste, ihre Atmung wurde flacher und schneller.Sie begann zu schwitzen, und ein Schwindelgefühl überfiel sie. Zitternd zwängte sich Estera in ein Mieder, obwohlsie von Natur aus über eine Wespentaille verfügte. Hastig legte sie eine helle Bluse mit runden Schultern sowie einen wadenlangen weiten Rock aus Kunstseide an. Dieser hatte Glanz und Glamour. Dann griff sie fahrig zur farblich abgestimmten Handtasche und den dazugehörigen Pumps. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich daran erinnerte, daß über jedes Kleidungsstück eine Segen (Beracha) gesprochen worden war.

Estera rannte vom Schlaf- ins Wohnzimmer, wo Salomon spielte. Er roch ihren Schweiß und geriet in Alarmbereitschaft. Seine Aufmerksamkeit erhöhte sich, und seine Seh- und Hörnerven wurden empfindlicher. Seine Muskelspannung, die Energiebereitstellung in diesen und seine Reaktionsgeschwindigkeit erhöhten sich. „Musst Du noch Mal Pipi?“,fragte Estera. Doch Salomons Blasen-, Darm- und Magentätigkeit waren während seines Zustands des Bammels gehemmt.

Wie jeden Tag ging Estera zum Friseur, nachdem sie Salomon zu Fuß in die Helenentalschule gebracht hatte. „Waschen, Färben und Legen!“ bat sie die Friseurin. Estera hatte sich zu einer Grand Dame entwickelt. Aus „Freilich & Zuckermann““ war „Abraham Freilich & Co.“ geworden, nachdem der Companion ihres Mannes, David Zuckermann, 1950 in die USA emigriert war. Abraham führte das Textil- und Konfektionshaus und konnte den Reibach im Wirtschaftswunder nun alleine machen. Estera arbeitete dem Zeitgeist der Nachkriegszeit entsprechend nicht, um Geld zu verdienen.

Abraham machte nach der Arbeit einen Schlenker durch die Lindenstraße. Er fuhr an der Hausnummer 14 vorbei,wo Rudolf Sempf die Gastwirtschaft „Brauhausschenke“ betrieb. Der ehemalige Wildunger Nazi-Bürgermeister begrüßte gerade Ex-SS-Männer – teilweise erkennbar an den selbst verursachten Verwundungen am linken Oberarm, die nach dem Krieg die dort tätowierten Blutgruppen vertuschen sollten und nun unter ihren kurzärmeligen Sommerhemden hervorlugten. Nachdem die Amerikaner 1955 abgezogen waren, konnte Sempf sich hemmungslos und regelmäßig mit seinen alten Kumpanen treffen – ausgerechnet in der Lindenstraße 14, im einstigen Wohnhaus der jüdischen Familie Rosenbusch. Abraham interpretierte seine Wahrnehmung aufgrund seiner Erfahrungen als lebensgefährlich. Seine Großhirnrinde schickte die Information an sein limbisches System, das für Gefühle zuständig ist. Spezielle Bereiche dieses Systems, der Hippocampus und die Amygdala, veranlassten dann seinen Hypothalamus über Nervenbahnen ins Nebennierenmark, Adrenalin, Noradrenalin, Kortisolund Kortison auszuschütten. Als er nach Hause kam, roch Salomon Abrahams Schweiß.

Am 6. Mai 1961, am Sabbat nach seinem 13. Geburtstag, hatte Salomon seinen großen Auftritt im Betsaal in der Heubnerstraße in Kassel, denn er war nun ein Bar Mizwa, ein „“Gebotsmündiger“. Im Gottesdienst wurde er dazu aufgerufen, Segenssprüche über der Thora vorzutragen. Dabei trug er zum ersten Mal Gebetsriemen (Tefillin) und einen Gebetsmantel (Tallith), so wie ihn die erwachsenen Männer tragen. Den vorgesehenen Abschnitt aus der Thora in Hebräisch trug er singend vor. Besonders glänzen konnte er, als er danach in einer Ansprache (Draschah) den Text erläuterte und seinen Eltern und Lehrern dankte. Am Ende der Lesung dankte Abraham:

„Gesegnet sei Gott, der mich von dessen (Salomons) Strafe erlöst hat.“

Denn von jetzt an war Abraham zum Mann geworden und trug die Verantwortung für seine Taten sowie eventuelle Strafen. Am Abend folgte ein Fest mit Verwandten, Freunden und Bekannten. Traurigkeit und Schwere lag in der Mietwohnung der Freilichs in der Richard-Kirchner-Straße 12. Man konnte es gar nicht festmachen. Ist es das In-die-Leere-Starren, das Nicht-anwesend-sein beim Gespräch? Dabei gab es Geschenke, Musik, Reden, heitere Einlagen und ein opulentes Festessen, das Salomon mit einem Dankgebet beendete. Salomon hatte das Gefühl, er ist anders als andere. Und das hatte nichts mit Religion zu tun. Er litt manchmal unter starken Ängsten, ohne dass er sich diese erklären konnte. Aber Salomon durfte sich nicht erlauben, unglücklich zu sein, weil Abraham und Estera nicht überlebt hatten, damit er unzufrieden ist. Er sprach nicht darüber, genauso wie Abraham und Estera nie über ihre Erlebnisse in der NS-Zeit sprachen.

„Was haltet ihr vom Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem? Wird manden Zeugen glauben?„, fragte Esteras Schwester Ruth in die Runde.“

„Pah, selbst David Ben-Gurion ist der Meinung: Wer überlebt hat, muss ein unanständiger Mensch gewesen sein, weil er auf Kosten von jemanden anderen überlebt haben muss“, wusste Abraham von einem seiner Brüder in
Israel.

„Und Du möchtest dorthin auswandern?“, fragte Estera Abraham, die in Bad Wildungen bleiben wollte, da sie hier als betucht galt.

„Ach, und wußtest Du, dass unser Bürgermeister Rodemer ein Nazi war?“, redete Esteras Schwester Ruth auf polnisch Tacheles.

Abrahams und Esteras Schweiß füllten den Raum.

Einige Monate später konnte Abraham plötzlich seine linke Körperhälfte nicht mehr spüren und kontrollieren. Sein Lächeln funktionierte nicht mehr, weil sein linker Mundwinkel unten blieb. Durch die häufige Ausschüttung von Stresshormonen hatten die Endothelzellen Schaden genommen, welche die Innenseite von Blutgefäßen auskleiden. Dabei hatten seine Gefäßwände an Elastizität verloren und sich verengt. Ein Gefäß im Gehirn hatte sich ganz verschlossen. Er hatte einen Schlaganfall gehabt. Abraham war seither schwer behindert. Nur mühsam konnte er noch mit einem Stock gehen, aber meistens blieb er zu Hause. Nun musste Estera arbeiten. Sie machte einen Führerschein und eröffnete eine Filiale in der Wandelhalle. Zwar war Estera praktisch wenig begabt, aber das Parlieren mit illustren Kurgästinnen lag ihr umso mehr. So konnte sie genug Kies verdienen, um am Schanzenweg 79 ein behindertengerechtes Haus zu bauen. Dass sich NPD-Anhänger in Bad Wildungen im „Zum Lämmchen“ trafen, verschwieg sie Abraham.

Salomon, der ohnehin ein inniges Verhältnis zu seiner Mutter hatte, übernahm die Rolle von Esteras Partner, auch wenn ihm das gelegentlich lästig war. Regelmäßig fuhren sie nach Italien in den Urlaub, nach Meran mit dem Familienauto, einem weißen Mercedes 200. Keine seiner Freundinnen, die Salomon mit seinem roten Alfa Romeo 2000 GT Veloce mit nach Hause brachte, war Estera gut genug. Gelegentlich kritisierte sie ihren Sohn, er sei nicht richtig angezogen. Schließlich hat man mit guter Kleidung größere Überlebenschancen. Salomon setzte die elterlichen Gefühle fort, unter einem Todesurteil zu leben, so daß er sich aus Angst oder Loyalität nicht gestatten konnte, anders zu sein als seine Eltern. Seine Wahrnehmung der Gegenwart war geprägt durch eine Vergangenheit, die nicht seine eigene war.

1966 hatte Salomon das Abitur gemacht und anschließend Medizin in Marburg studiert. Er wollte Chirurg werden. Hierzu nahm er im Frühsommer 1976 an einem Handchirurgenkongress in Tel Aviv teil. Als er zurückkam, hatte er Magenschmerzen. Die Diagnose lautete Magenkrebs Salomon wurde in Marburg operiert, doch der Operateur brach die OP ab: Salomons Bauchraum war voller Metastasen.

Salomon starb im Juni 1977 im Krankenhaus in Kassel im Beisein seines besten Freundes Dr. Mathias Bauer. Estera und Abraham wollten ihren Sohn auf dem Friedhof in Bad Wildungen begraben, doch die jüdische Gemeinde in Kassel bestand auf ein Grab auf dem jüdischen Friedhof in ihrer Stadt. Estera kämpfte dagegen an, doch vergeblich. Mathias hielt die Grabrede in Kassel.

Estera nahm nun Mathias als Ersatz für Salomon. Sie und Abraham hatten sich entfremdet: Als Behinderter war er nicht mehr repräsentativ. Zwei Jahre später starb auch Abraham. Erneut kämpfte Estera vergeblich gegen die Kasseler jüdischen Gemeinde und überwarf sich endgültig ihr.

Ihre letzten Jahre verbrachte Dr. Estera Freilich mit ihrem Terrier Georgi und Freundinnen, die sie regelmäßig in ihrem Haus empfing. Wie ihre Schwester Ruth hatte sie zuletzt am liebsten polnisch gesprochen, der Sprache ihrer Heimat. Sie starb 1998 an Altersschwäche und wurde auf dem Friedhof in Bad Wildungen begraben – mit einer Grabrede von Mathias, aber ohne Beistand der jüdischen Gemeinde und fernab von Abraham und Salomon.

Den Katalog der Ausstellung „Blickwechsel“ mit diesem Text und denen der anderen 24 Autoren kannst Du als PDF herunterladen.

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