Estera und Abraham Freilich als Brautpaar

Die Ausstellung „Blickwechsel“ in der Bad Wildunger Wandelhalle erinnerte im November und Dezember 2021 an das Schicksal ehemaliger jüdischer Bürger aus ungewöhnlicher Perspektive. 25 Autoren versuchten mit Texten zu ausgewählten Bildern, die Menschen „zum Sprechen“ zu bringen. Sie versetzten sich in das Leben ehemaliger Wildunger Juden und schrieben Texte, Gedichte und Briefe mit einer Mischung aus Fiktion und Wahrheit. Lesen Sie hier die Geschichte der Familie Freilich in Bad Wildungen der Nachkriegszeit!

Hoffnung und Wut

Anmerkung: Aus dem Jiddisch entlehnte Begriffe sind kursiv geschrieben.

Süßlich moschusartiger Duft vermischt mit dem Gestank von faulendem Fleisch lag in der Luft, als die Menschen an den Bergen skelettierter Leichen und Lampenschirmen aus menschlicher Haut entlang marschierten. Am 11. April 1945 hatte die 3. US-Armee das KZ Buchenwald befreit. Ihr General, George S. Patten, hatte befohlen, 1000 Weimarer durch die Anlage zu führen. Die Kluft der Menschen war besser als die jeder anderen europäischen Nation. Doch alles nahm diesen Verwesungsgeruch an. Auch die Menschen selbst. Zu Hause warfen sie ihre Kleidung weg, weil sie mit Waschen den Geruch nicht mehr los wurden. Jüdische Unternehmer hatten im 19. Jahrhundert in Berlin erstmals Kleider verschiedener Größen auf Vorrat schneidern lassen, sogenannte Confectionees. Damit wurde der breiten Bevölkerung ermöglicht, schöne bezahlbare Kleidung anzulegen – und wegzuwerfen. Abraham Freilich, 35 Jahre alt und gelernter Schneider aus Polen, trug an diesem Tag in Buchenwald „Zebrakleidung“. Den Verwesungsgeruch roch er nach Jahren in den KZs Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald nicht mehr.

Abraham schloss sich den Truppen General Pattons an und gelangte im April 1945 nach Bad Wildungen. Die Militärregierung hatte die Arbeit aufgenommen und die Militärverwaltung war ins Cafe Schwarze eingezogen. Nur morgens und Abend durfte man zur Erledigung wichtiger Aufgaben wie Arbeiten und Einkaufen für eine Stunde auf die Straße. Auf dem Weg zum Fürstenhof, wo Abraham untergebracht war, zog köstlicher Duft aus der amerikanischen Doughnuts-Bäckerei im Kaiserhof über die Brunnenallee. Abraham konnte im Straßenbild erkennen, wer von den Wildungern Beziehungen nach Amerika hatte – die waren bunt und nicht grau in grau gekleidet. Abraham war voller Hoffnungen. Doch viele Wildunger begegneten ihn als Juden bestenfalls mit Skepsis und als polnischen Untermenschen mit Verachtung. Dann verspürte Abraham ein leichtes Zittern, aufsteigende Wärme und einen Kloß im Hals, und sein Lächeln verging.

Dann kam der September 1945: Dwight D. Eisenhower löste Patten von seinem Kommando ab. In einem Interview hatte dieser die NSDAP als „normale“ Partei bezeichnet, den US-Demokraten und -Republikanern vergleichbar. Ausgerechnet Patten! Bei Abraham verbreitete sich tiefe Unruhe. Seine Herz- und Atemfrequenz beschleunigten sich, sein Kiefer spannte sich an, seine Augen rissen auf.

„Freilich & Zuckermann o. H. G.“ Abrahams setzte Stolz gegen seine Wut. Das Textil­- und Konfektionshaus betrieb er gemeinsam mit seinem Landsmann Mosche Zuckermann. Mit ihm hatte er zeitgleich das Lager Sosnowitz sowie die KZs Auschwitz und Buchenwald überlebt.

In dem Haus in der Brunnenstraße 20 (füntes Haus von rechts unten) hatte einst die Familie Hammerschlag gewohnt. Als Einzige hatte Selma die Shoa überlebt (Foto rechts). Nun war sie neben Mosche Vorstand der 50-köpfigen jüdischen Gemeinde in Bad Wildungen. Zu dieser gehörten auch Mosches Cousin David, Polen und US-Soldaten sowie die Rückkehrerin Erika Mannheimer und ihre Mutter Lina. Auch sie hatten als Einzige ihrer Familie überlebt. (Das Tagebuch von Erika Mannheimer ist erhalten.)

Während Lina in Bad Wildungen bleiben wollte, drängte Erika zur Auswanderung in die USA. Sie wollte nicht länger in dem Land der Massenmörder leben. Selma sah in jedem Deutschen einen potentiellen Ex-NS-Verbrecher. Lina, Erika und Selma wanderten 1946 in die USA aus. Das Foto (Quelle) zeigt Erika und Lina Mannheimer an einer Sammelstelle mit ihrem Gepäck, bevor sie an Bord der Marine Perch gehen und nach Amerika segeln.

Mit dem Wegzug der einzigen Juden aus Bad Wildungen, die überlebt hatten, war das alte jüdische Leben in der Stadt er1oschen. Abrahams Plan war, das Kaff Bad Wildungen Richtung Palästina zu verlassen. Dort lebten seine zwei Brüder und seine Schwester. Doch dann, im November 1946, tauchte eine Blondine in Bad Wildungen auf. Sie trug einen Mantel aus dunkler Wolle, dessen Schulterpartien eine maskulin eckige Form hatten. Insgesamt wirkte er zweckmäßig. Aber ihr Duft! Ein sinnlich-weiblicher Charakter mit blumigen Essenzen aus Ylang-Ylang, Jasmin und Mairose. Bourbon-Vanille und Sandelholz sorgten für pudrige Wärme.

Dr. Estera Bodner war sechs Jahre jünger als Abraham. Sie hatte das Ghetto Auschwitz, mehrere Zwangsarbeitslager und wie Abraham das Lager Sosnowitz sowie die KZs Groß-Rosen und Bergen-Belsen – auch weil sie dort als Zahnärztin malochen konnte. Danach hatte sie in einem Lager für Displaced Persons verbracht. Nach Bad Wildungen kam sie mit ihrer Schwester Ruth. Auch Estera fand Gefallen an Abraham: Er war empfindsam, gebildet und repräsentativ.

Bei ihrer Hochzeit trug sie ein weißes Satin-Kleid und einen Schleier aus Tüll, der ihr Gesicht verhüllte. So trat sie neben Abraham unter ein Baldachin (Chuppa) aus Seide, der von vier Stangen gehalten wurde. Das sollte an biblische Zeiten erinnern, in denen die Israeliten in Zelten wohnten. Ein US-Rabbiner führte die Heiligung (Kidduschin) und Verlobung (Erussin) durch. Er sprach den Segen über einen mit Wein gefüllten Becher, aus dem beide Brautleute tranken. Dann steckte Abraham Estera einen ein goldenen Ring an ihren Zeigefinger und sprach:

„Durch diesen Ring seiest Du mir angelobt entsprechend dem Gesetz von Moses und Israel.“

Nun verlas der Rabbiner den Ehevertrag (Ketuba): Abraham verpflichtete sich, Estera zu ehren, für ihre Kleidung und Nahrung zu sorgen sowie ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Zehn jüdische Männer unterschrieben als Zeugen. Dann fand die Heirat (Nissu’in) statt. Der Rabbiner verlas Segenssprüche, Abraham und Estera tranken erneut Wein, dann zertrat Abraham ein Weinglas. Dies sollte an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. erinnern. Es folgte ein Festmahl mit Tischgebeten sowie eine Feier mit Musik und Tanz. Schließlich bewarfen die Hochzeitsgäste das Paar mit Reis und Walnüssen, beides Symbole der Fruchtbarkeit.

Nachdem im April Mosche nach New York ausgewandert war und das Geschäft an seinen Cousin David abgegeben hatte, wurde am 4. Mai 1948 die jüdische Gemeinde wieder um ein Mitglied reicher. Estera und Abraham nannten ihren Sohn Salomon, wie den König von Israel im Tanach. Salomon galt nicht nur als Inbegriff von Weisheit, sondern auch von Gerechtigkeit.

Ungerechtigkeit und Kränkungen sind es, aus denen“ sich Wut speist. Dreieinhalb Jahre später, am 5.10.1951, war es wieder soweit. Die „Hessische Nachrichten“ berichtete:

„Ex-Kreisleiter fordert Wertersatz für SA-Hose“

Das war Rudolf Sempf, von 1934 bis 1945 Bürgermeister von Bad Wildungen. Er war seit 1928 NSDAP-Mitglied gewesen, SA-Obersturmführer, Gauredner und Reichs-Einsatzredner. Überliefert ist die Aussage des Wildunger Shoa-Opfers Leopold Marx, Sempf habe die Juden „misshandelt und gezwungen, vorbereitete Kaufverträge von ihrem Grundbesitz zu unterschreiben“. Und nun hatte Sempf die Chuzpe, die Stadt Bad Wildungen zu verklagen – wegen des Verlusts von SA-Hosen, Koppelzeug, Stiefel, Mützen und Schlipsen?

Abraham widersetzte sich dem Drang, Gläser gegen die Wand werfen oder zumindest mit der Faust auf den Tisch hauen, denn wenn ein Mensch Wut zeigt, bedeutet dies, dass er in dem Moment nicht mehr an die Fürsorge des Ewigen glaubt, und die Annahme, es gäbe eine lenkende Kraft neben Gott, ist laut Talmud gleichbedeutend mit Götzendienst. Estera hingegen kompensierte ihre Wut mit Humor:

„Zwei Juden haben ein Attentat auf Hitler geplant. Sie haben in Erfahrung gebracht, dass er jeden Mittag um Punkt Zwölf an einer bestimmten Straßenecke vorbeifährt. Sie erwarten ihn dort mit verborgenen Waffen. Um Punkt Zwölf sind sie schussbereit, doch von Hitler ist nichts zu sehen. Fünf Minuten später – immer noch nichts. Weitere fünf Minuten vergehen, aber Hitler taucht noch immer nicht auf. Um viertel nach Zwölf geben sie die Hoffnung auf. „Meine Güte“, sagt einer der beiden, „es wird ihm doch nichts zugestoßen sein.“

epilog

Selma Hammerschlag litt nach der Shoa als einzige überlebende ihrer Familie „verfolgungsbedingt“ an einer schweren Herzerkrankung, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Depression. Am 1.12.1960 brach sie plötzlich auf einer Straße in New York tot zusammen. Die Benennung eines Weges in Bad Wildungen nach ihr, die der Regionalforscher Johannes Grötecke beantragt hatte, wurde von der Stadt verwehrt – unter anderem mit der Begründung, Selma sei nicht nur gut gewesen. Heute trägt der Weg daher nur den Familiennamen „Hammerschlagweg“.

Heinrich Rodemer, Ex-Nazi und von 1960 bis 1970 Bürgermeister von Bad Wildungen, erhielt 1968 das Große Verdienstkreuz der BRD.

Weiter geht es mit dieser Geschichte in Kürze im zweiten Teil.

Das Tagebuch von Erika Mannheimer kannst Du hier (ab S. 13) nachlesen und herunterladen.

Den Katalog der Ausstellung „Blickwechsel“ mit diesem Text und denen der anderen 24 Autoren kannst Du ebenfalls als PDF herunterladen.

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