Dieser Beitrag soll mit mit einer Mischung aus Fiktion und Wahrheit an das Schicksal ehemaliger jüdischer Bürger in Bad Wildungen zur Zeit des Nationalsozialismus erinnern. Die Autorin versetzt sich in das Leben Wildunger Juden, die einen hohen Gast haben: Generalfeldmarschall Abdul Rachmann Khan aus Afghanistan, einer der Begleiter des Königs Amanullah auf seiner Reise nach Europa, der von einer Nierenkrankheit befallen den Badeort zur Heilung aufgesucht hat.
In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte Wildungen einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, weil die Stadt ein bekannter Kur- und Badeort wurde. Mit der Entwicklung der Stadt zu Bad Wildungen hatten Juden eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben zu spielen begonnen. Einige der wachsenden Zahl jüdischer Bürger gehörten Anfang des 20. Jahrhundets zu den wohlhabenden Leuten. Sie waren Kaufleute, Hotelbesitzer und Ärzte. In Bad Wildungen gab es etwa 30 jüdische Geschäfte. 1914 wurde eine Synagoge gebaut. Die Zeit der Weimarer Republik war die Blütezeit des jüdischen Lebens in dieser Stadt. Heute möchte ich von einem dieser schönen Tage in meiner Heimatstadt Bad Wildungen erzählen – einem der letzten.
Im ehemaligen Fürstentum Waldeck quillen aus reizvollen Talschluchten des Kellerwaldes eine Anzahl Brunnen, die leidenden Menschen von unschätzbarem Wert sind: die Quellen von Bad Wildungen. Ihr Wasser wird zu Trink- und Badekuren verwendet und dafür in den Kurpark und in die Badeanstalten des Ortes geleitet. Den Kurgästen, die aus allen Teilen der Welt von Ärzten hierher geschickt werden, um Heilung von Blasen- und Nierenleiden zu finden, sind am besten die Helenen-, die Georg Viktor- und die Königsquelle bekannt. Die Brunnenalle geht bis ins 17. Jahrhundert zurück, als man vom Sauerbrunnen in Richtung Stadt eine Lindenallee anlegte. Die Straßen der Altstadt haben bezaubernde Namen: Fuchsrain, Sonnensteig, Seidenes Strümpfchen, Paradiesgasse, Am Katzenstein. Die Fachwerkhäuser schmiegen sich idyllisch krumm und eng aneinander. Doch hinter der Idylle gärte es in den 1920er Jahren.
Mit den Worten »Hoffen wir, daß uns das neue Jahr endlich Erlösung von Schmach und Knechtung bringen und uns wieder empor führen möge zu den lichten Höhen der Freiheit und Gleichberechtigung im Kampfe ums Dasein« hatte die Waldeckische Landeszeitung (WLZ) das Jahr 1928 begrüßt. Bei der Reichstagswahl am 20. Mai hatte die NSDAP in einigen Ortschaften in Waldeck bis zu 76% der Stimmen gewonnen. Alle jene Orte zeichneten sich dadurch aus, daß sie Schauplatz von NSDAP-Wahlveranstaltungen gewesen waren: Alle anderen Parteien seien »Handlanger der jüdischen Hochfinanz, die uns Krieg, Revolution, Dawesabkommen, Locarno und unser heutiges Elend gebracht hat.« Im gut 5.000 Einwohner zählenden Bad Wildungen war die NSDAP bislang nicht aktiv in Erscheinung getreten. Entsprechende Gewinne waren daher ausgeblieben. Noch stand die WLZ, das wichtigste Nachrichtenorgan der Region, der neuen »Bewegung« reserviert gegenüber. Doch die Reserviertheit sollte sich bald in unheilvolle Hoffnung verwandeln.
Für die jüdischen Kurgäste gab es zwei streng koscher geführte Hotels: das „Palasthotel“ von Berthold Baruch in der Brunnenallee 29, größtes und ältestes jüdisches Hotel am Platze, und das „Hotel Germania“ von Gerson Krittenstein in der Hufelandstraße 12. „Fernsprechnummer 37. Vollständig renoviert. Sämtliche Zimmer mit fließendem kaltem und warmem Wasser sowie Zentralheizung und Lichtsignalen. Auto-Garage. 2 Minuten von Quellen, Kurpark und Bädern. Erstklassige kurgemäße Verpflegung.“ lautete die Anzeige. Das “Haus Kirchner“ und die “Villa Carola“ in der Hufelandstraße 9 waren hingegen für jüdische Kurgäste tabu: Sie galten als antisemitisch.
Ende Juni 1928 weilte im „Hotel Germania“ ein hoher Gast: Generalfeldmarschall Abdul Rachmann Khan aus Afghanistan, einer der Begleiter des Königs Amanullah, der auf seiner Reise nach Europa von einer Nierenkrankheit befallen worden war und den Badeort zu seiner Heilung aufgesucht hatte. Als streng religiöser Muslim, dem bekanntlich der Genuss von Schweinefleisch untersagt war, sah Abdul Rachmann Khan sich veranlasst, in einem jüdischen Hotel Wohnung zu nehmen. In seiner Umgebung fühlte er sich außerordentlich wohl und hatte durch die Vermittlung eines Dolmetschers mit einigen Gästen engere Bekanntschaft geschlossen. Sie hatten ähnliche Vorstellungen von Glauben und Religion. Auch die Riten ähnelten sich: Beschneidung, tägliche Gebete, Reinheitsregeln beim Essen. Beide Religionen müssen detaillierte Regeln befolgen, um ihrem Gott zu gefallen. Doch diese Bekanntschaften sollten nicht von langer Dauer sein.
Heute am Freitag, vor Beginn des Shabbats, wartete Abdul Rachmann Khan gemeinsam mit einigen seiner jüdischen Bekannten bis er an der Reihe war: Es galt, drei Mal in der Mikwe der Synagoge von Bad Wildungen unterzutauchen. Dabei waren Gerson Krittenstein und seine Familie: sein Schwiegersohn Ludwig Katz, der in Wieseck eine Arzt-Praxis führte, sein Schwager Leopold Marx, Vorsteher der jüdischen Gemeinde und Viehhändler am Kirchplatz, und dessen Sohn Max. Zudem gehörten zu den Wartenden Jonas Hecht, Kantor und Lehrer der jüdischen Gemeinde, sowie seine Söhne Kurt Jacob, Manfred und Norbert. Gerson Krittensteins Frau und Leopold Marx Schwester Lina, ihre Tochter und Frau von Ludwig Katz Sofie, sowie Leopolds Marxs Frau Rosa, seine Schwester Eva und Jonas Hechts Frau Henriette tauchten im Frauenbad unter – noch floß lebendiges Wasser in der Mikwe.
Am Hang am Dürren Hagen gelegen, war die Synagoge weithin sichtbarer und markanter Teil der Altstadtsilhouette mit der Stadtkirche, Schloss Friedrichstein und dem Roten Hahn. Mit ihren über 200 Sitzplätzen konnte sie wesentlich mehr Besucher aufnehmen, als die rund 150 Personen der heimischen jüdischen Gemeinde in Bad Wildungen. Das Gebäude war Ausdruck eines gestiegenen Selbstbewusstseins der Juden. Wirtschaftlich erstarkt und sozial zunehmend anerkannt, nun auch politisch und rechtlich gleichberechtigt, empfanden sie die Synagoge als Symbol ihrer Integration in die christlich geprägte Umwelt. Gleichzeitig verwiesen sie durch die monumentale, teils orientalisch wirkende Architektur stolz auf die Wurzeln ihrer Religion. Bald sollte der gelbe Judenstern die Juden in der Stadt kennzeichnen.
Zwei Eckbauten umrahmten den markanten Rundbau mit einem Kuppelbau. Im Sockelgeschoss lagen ein Schul- und Versammlungssaal sowie eine Wohnung. Hier wohnte Jonas Hecht mit seiner Familie. Die Mikwe befand sich im Stockwerk unterhalb der Wohnung. Sie hatte vorschriftsmäßig sieben Stufen, die hinab ins Wasser führten, und ein Fassungsvermögen von etwas mehr als 500 Litern. Es gab eine Heizung, das Frauenbad und den Baderaum für Männer mit zwei Wasserbehältern. Der eine Behälter diente als Zisterne, um Regenwasser als „lebendiges Wasser“ vom Dach zu gewinnen. Der Andere diente eines der letzten Male als Tauchbecken.

„Waren Sie schon am Judenbrunnen?“, fragte Gerson Krittenstein Abdul Rachmann Khan.
„Nein, den habe ich noch nicht entdeckt.“
„Er liegt im Kurpark dicht neben dem Musiktempel und ist mit einer künstlerisch-schönen Bronzefigur geschmückt“, klärte Leopold Marx auf.
Jonas Hecht sah sich veranlaßt, Abdul Rachmann Khan die Sage von der Entstehung des Judenbrunnens zu erzählen: „Vor Hunderten von Jahren zog ein armer jüdischer Hausierer durch das Tal der Eder und kam in die Nähe der Stadt Nieder-Wildungen. Da wollte er einen Bach überschreiten. Als er eine Stelle suchte, wo dies bequem möglich war, sah er, wie an einer Stelle das Wasser sprudelte. Er schöpfte mit einem Becher davon, und siehe, es war von besonderem Wohlgeschmack. Perlen stiegen vom Grunde des Gefäßes zur Oberfläche hin, und ein seltenes Wohlgefühl durchzog bald den ganzen Körper des von mancherlei Leiden gequälten Mannes. Da dankte er aus vollem Herzen dem Allmächtigen für alles, was er erschaffen hatte, um damit das Leben zu erhalten, und wo er in der Nähe Bekannte und Freunde hatte, erzählt er ihnen von dem wundertätigen ‚Saur-Born’ bei Wildungen. Nach und nach verbreitete sich so die Kunde unter den Juden der Gegend, und bald erkannten sie die heilende Wirkung des Wassers bei Gries- und Steinleiden.
Nicht für die Dauer konnte der übrigen Bevölkerung der Besuch dieser Quelle durch die Juden verborgen bleiben. Man glaubte ihnen nicht den Grund, den sie dafür angaben. Als einer durch den übermäßigen Genuss des Wassers erkrankte, da hieß es, die Juden hätten es vergiftet. Viele reiche Juden wurden daraufhin ergriffen und eingekerkert. Nur die Armen, die zur Quelle gekommen waren, ließ man laufen. Die Angehörigen der Unglücklichen gingen zum Rabbi und fragten um Rat. Der fromme Weise antwortete ihnen: ‚Wohltun rettet vom Tode’. Da nahmen sie von ihren Reichtümern, und überall, wo Not und Elend war, spendeten sie mit vollen Händen. Der Graf von Waldeck, vor dem die Angelegenheit gekommen war, ließ das Wasser untersuchen, und seine Heilkraft wurde bestätigt. Da wurden die Eingekerkerten freigelassen. Die Quelle erhielt eine schöne Fassung und wurde von da ab ‚Judenbrunnen’ genannt.“ Bald schon sollte Wohltun nicht mehr vom Tode retten.
Im Kuppelraum der Synagoge befand sich der Tora-Schrein und der Vorlesepult. Die Fenster der Synagoge zeigten die sechs Schöpfungstage sowie die zwölf Stämme Israels. Die Geschlechter saßen getrennt, die Männer im Erdgeschoss, die Frauen auf der Empore. Über der Empore befand sich die Kuppel, deren Innenseite ein leuchtendes Himmelsblau mit goldenen Sternen zierte. Der Gottesdienst stand in seinem Hauptteil ganz im Zeichen der Begrüßung der „Braut Shabbat“. Um diese willkommen zu heißen, wendete sich die Gemeinde am Ende des Begrüßungslieds der Tür zu und verneigte sich. Zum Schluss sprach Jonas Hecht den Segensspruch über den Kiddusch, einem Becher voller Wein. Nun war der Shabbat eingeweiht. Die Familie von Gerson Krittenstein stellte sich auf dem Weg zum „Hotel Germania“ vor, dass sie von zwei Engeln begleitet werden. Daher sangen sie beim Nachhausekommen, bevor sich die Engel von ihnen abwandten:
„Friede grüß euch fein,
Friedensboten Sein,
Ihr Boten aus den Höhn,
Vom König aller Könige,
Vom Heiligen – Ihm sei Lob.“
Dann gingen sie an einer Gruppe vorbei, die in letzter Stunde verbittert gegen den Anschluß des Fürstentums Waldeck an das Land Preußen demonstrierte. Aufwendige repräsentative Gebäude hatten die Schuldenlast Waldecks in die Höhe getrieben. In Bad Wildungen waren das Schloß, der Fürstenhof, das Badehotel und der Kaiserhof entstanden. Gerade wurde die neue Wandelhalle an der Georg-Viktor-Quelle gebaut. Die WLZ resümierte, vor dem Weltkrieg hätte man wohl jeden »gesteinigt«, der so etwas wie den Anschluß in die Diskussion gebracht hätte.“ Ein besonderer Dorn im Auge war den Anschlußgegner die angeblich »linke« preußische Presse. Preußen sei ein »System-Musterland, von dem Ansteckung mit dem Bazillus Demokratie zu befürchten war. Schließlich war der Staatsvertrag über den Anschluß an Preussen im April 1928 von der waldeckischen Landesvertretung einstimmig gebilligt worden: Das Fürstentum benötigte dringend Geld. Doch die Vernunft sollte nicht mehr weit tragen.
Ansonsten beherrschten der Jungdeutsche Orden, Familienabende und Konzerte im Kurpark das öffentliche Erscheinungsbild in Bad Wildungen. Kriegervereine und Reservistenkameradschaften trommelten ihre Anhänger für Offiziersvorträge und Kriegserlebnisschilderungen zusammen, um damit ihrem Anspruch auf »Pflege deutscher Gesinnung und nationalen Bewußtseins“ gerecht zu werden. Es ging vorbei am Central-Kino von Leibisch und Itta Epelbaum. Sie waren erst vor kurzem nach Bad Wildungen gezogen. Leibisch war vor den Bolschewiki in der Sowjetunion geflohen. Das Kino war in dem Haus Brunnenallee 46 untergebracht, bekannt als „Hotel Zimmermann“. Es hatte geprägte Holzklappsitzreihen, rote Plüschstühle und Korbsessel für insgesamt 280 Besucher. Allwöchentlich gab es zwei Programme bei bis zu drei Vorführungen täglich. In dieser Woche wurde ein »vaterländisch wertvoller« Kriegsfilm gezeigt. Nach den Sensationserfolgen von »Der Weltkrieg« und »Weltkrieg/Teil 11« versetzte das Epos »Brandstifter Europas«, das angeblich „von größtem Wert für den Kampf gegen die Kriegsschuldlüge“ war, die Massen in Begeisterung. Bald sollte diese Begeisterung die Engel der Familie Gerson Krittensteins vertreiben.
„Shabbat Shalom, Herr Eppelbaum. Kommen Sie und Ihre Frau heute Abend zu uns, um gemeinsam mit meiner Familie den Shabbat einzuleiten?“, fragte Gerson Krittenstein.
„Shabbat Schalom. Ja, gerne. Herzlichen Dank für die Einladung.“

Im Hof des „Hotels Germania“ sprach Jonas Hecht, der auch der Schächter war, einen Segensspruch auf, bevor er mit einem langen, scharfen Messer einen raschen Schnitt quer durch die Halsschlagader, Speise- und Luftröhre bis zur Wirbelsäule eines Huhns ausführte, so dass das Tier durch den sofortigen Abfall des Blutdrucks bewusstlos wurde und das Fleisch vollkommen ausbluten konnte. Leopold Marx hatte es mitgebracht. Jonas Hecht entfernte die Hüftsehne aus dem Fleisch, bevor der Koch, ein sephardischer Jude, das tote Huhn rupfte und dann den Eintopf mit Zimt, Kreuzkümmel und Nelken würzte. Das Fett des Huhns durfte auf der Suppe schwimmen – anders als das frei auf dem Fleisch liegende Unschlitt der Rinder, Schafe und Ziegen, das nicht gegessen werden konnte. Die Shabbat-Brote waren bereits gebacken. Als die Dämmerung einsetzte, entzündete Lina Krittenstein die Shabbat-Kerzen und sprach ahnungslos den Segen:
„Lob nun, ja Lob dir o Gott
Unser König, der sich zuschwor uns,
durch sein Gebot.
Und schrieb uns vor, das Shabbat-Licht zu entzünden.“
Mit dem Entzünden der Shabbat-Kerzen hatte der Shabbat Einzug im „Hotel Germania“
gehalten. Von nun an war jede werktägliche Tätigkeit untersagt. Alles konzentrierte sich
auf die Heiligkeit des Augenblicks. Vor der Mahlzeit wuschen sich alle die Hände. Gerson Krittenstein sprach nochmals den Kiddusch, trank einen Schluck und reichte den Becher zunächst an die Gäste, dann an seine Frau Lina und zuletzt an seine Tochter Sophie weiter. Dann wurden die Brote gesegnet, in Stücke gebrochen, mit Salz bestreut und an jeden Einzelnen verteilt. Nun begann das festliche Mahl, das keiner der Beteiligten jemals vergessen sollte.
„Erzählen Sie uns von Ihrer Reise!“, verlangte Gerson Krittenstein von Abdul Rachmann Khan. Dieser trug zum feierlichen Anlaß einen hellblauen Waffenrock. Goldbestickt, mit Orden übersät, scharlachrote Hosen, eine tschakoähnliche Uniformmütze mit Brillant-Agraffe und Reiherstutz. Ein schwarzer Umhang wallte um seine Schultern, als er erzählte:
„Amanullah hatte wie alle anderen afghanischen Herrscher vor ihm noch nie seine
Heimat verlassen. Er hatte noch nie ein Schiff gesehen, geschweige denn das Meer. Der junge Monarch wollte sich jedoch Anregungen für die weitere Modernisierung seines Landes holen. Vieles hat er schon auf den Weg gebracht: eine erste Verfassung, die das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit beinhaltet, die
Abschaffung der Sklaverei und der Unterstützungszahlungen an die Stämme, die nun ihrerseits steuerpflichtig geworden sind, die allgemeine Schulpflicht, die Gleichbehandlung von Mann und Frau und die Trennung von Kirche und Staat.
Im Dezember 1927 ging es also los. Mit dabei sind neben einigen Schwestern der Königin Soraya der stellvertretende Außenminister, der Präsident des Staatsrats, der Kriegsminister, Offiziere, Privatsekretäre, Leibärzte und Diener. Wir reisten zunächst auf einem von der indischen Regierung zur Verfügung gestellten Dampfer nach Bombay, dann weiter nach Ägypten, Italien, Frankreich, Großbritannien, Belgien und in die Schweiz. Der italienische Ministerpräsident Benito Mussolini hat Amanullah sogar ein Panzerauto geschenkt.“

„Da mussten die Deutschen dann aber noch tiefer in die Tasche greifen für eine dreimotorige Junkers Typ G 24, deren Preis ein Dreieinhalbfaches des Fiat-Panzerwagens beträgt – 285.000 Reichsmark!“, amüsierte sich Leopold Marx.
„Ja, während der Berliner Volksmund noch liebevolle Namen wie „Amanullerich“ oder
„Ullemulle“ für die afghanische Hoheit kreiert, rechnen links stehende Blätter wie der
„Vorwärts“ bereits haarklein aus, dass der königliche Besuch den deutschen
Steuerzahler 600.000 Reichsmark gekostet habe – inklusive Stromrechnung.
Kabarettbühnen bringen Amanullah-Nummern, Franz Arnold und Ernst Bach
haben den Schwank „Hulla di Bulla“ geschrieben, die Liedkomponisten lassen sich zu nicht immer geschmackssicheren Exotismus-Schlagern inspirieren, und Dichter wie Erich Mühsam, Erich Weinert und Kurt Tucholsky verfassen spöttische Poeme“, lachte Sofie Katz, und auch Abdul Rachmann Khan lachte mit.
„Abgesehen vom Unterhaltungswert hat die Begeisterung vieler Berliner
auch noch einen tiefer gehenden Grund: Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges war hier
kein ausländisch-repräsentatives Haupt auf Staatsbesuch mehr gewesen“, meinte Ludwig Katz.
„Das zweite ist natürlich, dass Deutschland ein Exportland ist; und in diesen schwierigen Zeiten der Weltwirtschaftskrise erhofft man sich natürlich Aufträge von Ihrem Besuch“, ergänzte Leopold Marx Sohn Max in Richtung Abdul Rachmann Khan.
„Hinzu kommt: Afghanistan beflügelt schon seit längerem europäische Herrschaftsphantasien, die Vorstellung, dass das Herzland einer künftigen Weltherrschaft in Zentralasien liegt. Afghanistan eben als eine Brücke zwischen Europa und Asien. Möglicherweise kann man in einem Kriegsfalle eine
Art Schwertstreich gegen das britische Empire führen, indem man die Völker
in diesem Raum gegen die britische Kolonialherrschaft mobilisiert“, ließ Leibisch Eppelbaum Abdul Rachmann Khan übersetzen.
Seine Frau Itta zeigte sich jedoch skeptisch: „Das wurde doch schon während des Ersten Weltkrieges versucht. Wie ihr wisst, hatte der Sultan-Kalif des Osmanischen Reichs 1914 die muslimischen Soldaten, die in den Kolonien auf Seiten Englands und Frankreichs kämpften, zum Dschihad gegen ihre Kolonialherren aufgerufen. Deutschland hatte sich als Verbündeter des Osmanische Reichs mit der „Nachrichtenstelle für den Orient“ an diesem Versuch beteiligt, indem es in der Nähe von Berlin das Halbmondlager für etwa 30.000 muslimische Kriegsgefangene aus der britischen und französischen Armee errichtet hatte. Dort sollten sie zum heiligen Krieg gegen ihre Kolonialherren bewegt werden. Aus diesem Grund wurde in dem Lager sogar eine Moschee gebaut, die erste auf deutschem Boden. Es darf allerdings vermutetet werden, dass nicht allzu viele Muslime überliefen.“

Henriette Hecht leitete nun mit Blick auf Abdul Rachmann Khan den fröhlichen Teil des Abends ein: „Nach dem Ende des Weltkriegs wurden alle muslimischen Gefangenen entlassen. Letztes Jahr wurde dann die Ahmadiyya-Moschee im Berliner Ortsteil Wilmersdorf fertig gebaut. Geschäftsführer ist seit 1925 der Schriftsteller Hugo Marcus, der vom Judentum zum Islam konvertiert ist. Trotzdem ist er auch Mitglied der jüdischen Gemeinde geblieben, da er keinen Widerspruch zwischen unseren beiden Religionen sieht.“ Abdul Rachmann Khan lächelte seelig.
Dann pflegte die Runde als Ausdrucksmittel der Freude und des Gemeinschaftsgefühls den Tanz. Dieser war eine Lieblingsbeschäftigung der Juden, die nie asketisch waren und dabei eine ausdrucksvolle Körpersprache entwickelt hatten. Diese unterschied sich von derjenigen nichtjüdischer Völker deutlich, hauptsächlich durch die Sprache der Hände, Arme und Beine – zumindest bei den geschickteren jüngeren Männern wie Max Leopold, Ludwig Katz und den Brüdern Kurt Jacob, Manfred und Norbert Hecht. Und ganz anders als bei Abdul Rachmann Khan, der sich genauso ungelenk bewegte wie Donald Trump beim Säbeltanz im Saudischen Königshaus im Mai 2017. Im Allgemeinen quittierten Juden den Tanz gemeinsam mit Partnern des anderen Geschlechts eher mit Argwohn. Doch heute Abend tanzten alle gemeinsam einen hora: In einer Kreisanordnung machte jeder Tänzer zwei Schritte nach vorn und einen zurück, dann einen Weinstockschritt: ein Fuß kreuzte vor dem anderen, beim Bewegen nach links den Rechten vor und dann hinter den Linken, bei der Bewegung nach rechts den Linken vor und dann hinter den Rechten. So verringerten sie tanzend den Radius des Kreises und hoben ihre Hände, um ihn dann mit einem Schritt nach vorn und zwei zurück wieder zu vergrößern, während sie ihre Hände senkten. Gemeinsam sangen sie „Hava Nagila“:
„Lasst uns freuen,
und seid glücklich.
Lasst uns singen,
und seid glücklich.
Wacht auf, wacht auf, Brüder.
Wacht auf, Brüder mit einem glücklichen Herz.“
Dann ging einer der letzten glücklichen Tage in Bad Wildungen zu Ende. 1931 verkauften die Eppelbaums ihr Kino und flohen 1932 mit ihren Kindern Felix und Sonja in die Schweiz. Im Dezember 1938 wurde Max Marx in Buchenwald erschlagen. Sein Vater Leopold wurde im Dezember 1941 in die lettische Hauptstadt Riga deportiert. Ende September 1942 wurden Sofie, ihr Ehemann Ludwig Katz, ihre Tochter Hildegard, ihre Mutter Lina Krittenstein, die nach dem Tod ihres Mannes bei ihnen lebte, und Schwiegermutter Rosa Marx nach Darmstadt deportiert. Sofie, ihr Mann und ihre Tochter wurden in Treblinka ermordet. Lina und ihre Schwägerin Rosa fanden in Theresienstadt den Tod. Im November 1943 wurde Leopold Marx in Auschwitz vergast. Die Synagoge von Bad Wildungen wurde in der Pogromnacht 1938 zerstört. Jonas und Henriette Hecht wurden in Kaunas in Litauen ermordet. Ihren Söhnen Kurt Jacob, Manfred und Norbert gelang es, in die USA auszuwandern.
Unterstützung bei der Ermordung der 6 Millionen Juden erhielten die Nationalsozialisten von Mohammed Amin al-Husseini, Großmufti von Jerusalem und palästinensisch-arabischer Nationalist. Amin al-Husseini spielte eine entscheidende Rolle bei der Ausbreitung des Antisemitismus im arabischen Raum, der bis heute möderisch wirkt. Er war überzeugter Befürworter der Vernichtung der europäischen Juden im Deutschen Reich. Ab 1941 lebte er in Berlin, war Mitglied der SS und betrieb Propaganda für Deutschland in arabischer Sprache. In der Spätphase des Zweiten Weltkrieges half al-Husseini auf dem Balkan bei der Mobilisierung von Moslems für die Waffen-SS.
Heute versuchen Neu-Rechte Juden gegen Muslime aufzuhetzen. Auf dem Koblenzer Treffen der europäischen Rechten im Januar diesen Jahres rief Marcus Pretzell, NRW-Landesvorsitzender der AfD, der Versammlung zu: „Westeuropa hat ein Problem mit dem politischen Islam. (…) Es gibt ein Land, was schon seit Jahrzehnten Erfahrung in dieser Frage hat. (…) Israel ist unsere Zukunft, meine Damen und Herren!“ Im aktuellen Programmentwurf der AfD heißt es, das pervertierte Schuldgefühl wegen der NS-Verbrechen habe Angela Merkel dazu verleitet, Hunderttausende Flüchtlinge ins Land zu lassen. Wenn AfD-Politiker über den Holocaust sprechen, geht es immer nur um Sieger, Besiegte und „Schuldkult“. Von Trauer ist nichts zu spüren. Ein Teilnehmer des jüdischen Gemeindetags im Dezember 2016 in Berlin berichtet, dass sich auch AfD-Sympathisanten zu Wort gemeldet und über muslimischen Antisemitismus gesprochen hätten. Das Gros aber habe einem älteren Mann applaudiert, der in der Diskussion aufgestanden sei und erregt gesagt habe: „Leute, machen wir uns doch nichts vor. Wenn sie mit den Muslimen durch sind, geht es uns an den Kragen.“